2022-10-07:
Bom dia, ich melde mich mit einem Update aus Brasilien!

Die Optimierung der Beamline-Optik geht weiter. Wie bei sowas zu erwarten ist, treten immer wieder neue, teils überraschende Probleme auf. Ein Beispiel: Nach einer Umstellung des IT-Systems laufen die Python-Skripts (Skripte schreiben ist ein guter Teil der Arbeit hier) zu schnell (!). Die Kommunikation mit den Elementen der Beamline kommt nicht hinterher. Die Arbeitsphilosophie „Einer arbeitet – alle anderen schauen zu“ für die Bedienung komplexer Maschinen ist hier (wie auch in Österreich) weit verbreitet. Gipfel des Wahnsinns: Freitagabend gegen 6 Uhr sitzen 6 Leute vor einem Bildschirm, einer drückt eine Taste und alle schauen gebannt zu, wie sich die ausgegebenen Zahlen verändern. Als der kollektive Einsatz zwei Stunden später endlich durch ein gemessenes Spektrum belohnt wird, sind allerdings nur mehr 3 Leute da. Weiters werde ich Zeuge eines Rigorosums – hier wird wirklich rigoros vorgegangen, mein Kollege wird über drei Stunden lang zu seiner Dissertation ausgefragt.

Auch abseits der Arbeit tut sich einiges. Am Wochenende übersiedle ich vom Guesthouse in eine WG (inklusive Hund und Katze). Samstags feiert die Arbeitsgruppe mit einer Grillparty (u.a. den neuen Doktortitel des Kollegen und den Erfolg eines gemessenen Spektrums nach fast einem Jahr Aufbau der Gerätschaften) – es gibt reichlich köstliches Essen, Bier und den berüchtigten originalen Caipirinha. Sonntags findet die Präsidentschaftswahl statt (sowohl lokal als auch global etwas bedeutender als jene in Österreich…), meine neuen Mitbewohner nehmen mich abends zu einer kleinen Wahlparty mit, wo mit großer Anspannung die laufend aktuellen Ergebnisse verfolgt werden. Außerdem besuche ich einen Tanzkurs für Samba und Forró (Sambamusik ist wirklich omnipräsent hier, überall gibt es auch Lokale in denen getanzt wird oder Gruppen, die sich zum Musizieren treffen). Mein Portugiesisch wird auch immer besser.

In diesem Sinne – Tchau (sic!) und beste Grüße!
Lorenz

Die RIXS-Station am Sirius
Einige meiner neuen Mitbewohner
Brasilianischer Grill mit österreichischem Grilllehrling
Sambasession bei der Wahlparty

2022-09-26:
Die erste Woche meines Aufenthalts geht rasend schnell vorbei. Ich arbeite mich in einige der Abläufe an der Beamline ein. Direkt bevor ich hier ankam, gab es einen längeren Shutdown, im Zuge dessen auch kleine Änderungen am Beschleuniger vorgenommen wurden, weshalb diese Woche vollständig der optischen Feinjustierung des Strahls gewidmet ist. Dies ist eine sehr delikate Angelegenheit, denn die Beamline enthält etliche optische Elemente, wie etwa Spiegel, Aperturen und optische Gitter, die alle mit Fingerspitzengefühl eingerichtet werden wollen. Neben der Arbeit beginne ich mit der Erforschung meiner Umgebung, insbesondere des Bezirks in dem das Institut situiert ist: Barão Geraldo. Ein Kollege nimmt mich eines Abends mit zum Fußballspielen (mit anschließendem hopfenhaltigen Kaltgetränk) und am Samstag besuche ich den Wochenmarkt. Tulio hat mir sein Fahrrad geborgt, daher nutze ich am Sonntag meine neu gewonnene Flexibilität und erkunde die Gegend rund um Sirius. Es folgt eine Sammlung von Beobachtungen und Eindrücken, von denen ich berichten möchte:

  • Die Südländer hier sind so weit im Süden, dass sie, anders als in Südeuropa, schon wieder zu normalen Zeiten essen. Das heißt Mittagessen ist gegen 12 Uhr (in der sehr guten Mensa!).
  • Alles ist recht süß hier. Für manche Dinge von Vorteil (z. B. Bananen), für andere eher gewöhnungsbedürftig nach meinem Geschmack (ich habe noch kein Brot gefunden, das nicht leicht süßlich schmeckt). Und Nachspeisen verkleben einem sowieso meistens den Mund.
  • Der Campus rund um Sirius beherbergt jede Menge toller Pflanzen aus verschiedenen Regionen Brasiliens – darunter der Ipê-Baum, nachdem die Beamline benannt ist. Da ja hier Frühling ist, protzt er gerade mit wunderbaren gelben Blüten.
  • Barão Geraldo ist das Universitätsviertel von Campinas und außerdem sind mehrere Hightech-Firmen hier angesiedelt. Obwohl es ein Teil von Campinas ist, wirkt das Viertel eher wie eine eigene Kleinstadt – allerdings eine sehr nette, mit einer Mischung aus Studentenleben und Vorstadtsiedlungen.
  • Wenn ein Brasilianer dir sagt, dass ein Fußballmatch „easy going“ und „at a low level“ ist, dann vergiss nicht, dass er das auf einer brasilianischen Skala bewertet…
  • Am Markt in Barão Geraldo kann man jede Menge Essen und Trinken erwerben – aus Brasilien, aber auch aus der ganzen Welt. Kokoswasser habe ich probiert, den Apfelstrudel allerdings ausgelassen.
  • Das Klischee von Brasilien und Samba stimmt. Es gab Live-Musik am Markt, man kann leicht erraten welche Musikrichtung gespielt wurde.
  • Die Wahlen nächsten Sonntag sind in aller Munde. Am Markt waren einige Leute unterwegs, die Flyer austeilten, Fahnen schwangen, etc. Tulio empfahl dieses und nächstes Wochenende dem Zentrum Campinas fernzubleiben.
  • Wenn man auf Google Maps nach einer Fahrradroute sucht, ist es möglich, dass die Priorität der Straßen nicht ganz berücksichtigt wird. Man kann praktisch überall landen, zwischen quasi einer Autobahn und einem Feldweg inmitten eines Ackers – letzteres ist allerdings wesentlich hübscher.


LG aus Brasilien
Lorenz

Sirius mit blühenden Ipê-Bäumen
Ich, ein Kokoswasser aus der Nuss genießend
Der einsame Hüter des Feldes

2022-09-20:
Trotz einigen Adrenalins (last-minute Vorbereitungen, Standby-Ticket für den ersten Flug etc.) klappt die Reise nach Brasilien dann doch noch. Ich bin hier für einen Forschungsaufenthalt im CNPEM (Centro Nacional de Pesquisa em Energia e Materiais (dem Brasilianischen Nationalen Zentrum für Energie- und Materialforschung, wie man auch mit so geringen Portugiesischkenntnissen wie meinen zumindest erraten kann)), genauer gesagt im LNLS (Laboratório Nacional de Luz Síncrotron), also am neugebauten, hochmodernen Synchrotron Sirius (kein Akronym, sondern benannt nach dem hellsten Stern am Nachthimmel). Nach der Ankunft in Campinas (in dieser „Vorstadt“ („nur“ 1,2 Millionen Einwohner) von São Paulo liegt das Forschungszentrum) bei frühlingshaften (für mich heißen…) 27 °C, werde ich von Tulio Rocha, seines Zeichens Beamline Scientist der IPÊ-Beamline (sowohl ein Akronym (Inelastic scattering and PhotoElectron spectroscopy), als auch ein brasilianischer Baum – solche Kreationen nennt man Apronym; alle Beamlines hier sind derartige Bäume, manchmal ist das recht holprig) und mein wunderbarer Gastgeber, abgeholt und zum CNPEM gebracht. Dort erfolgt der Bezug des Guesthouses, das Kennenlernen der Arbeitsgruppe bei Mittagessen und Kaffee, eine erste Einführung in die Beamline und die zugehörigen Anlagen, sowie die Abwicklung der Willkommensbürokratie. Abends treibt mich der Jetlag früh ins Bett – das wird in den nächsten Tagen vermutlich anders, wenn ich rundherum die fremde neue Welt erforsche. Ich bin schon sehr gespannt, was die nächsten zwei Monate bereithalten.

LG aus Brasilien
Lorenz

PS: Ich werde versuchen bei den nächsten Einträgen mit weniger Verschachtelungen auszukommen.

Blick durch die Experimentierhalle, mit der IPÊ-Beamline im Hintergrund.